Vor knapp 50 Jahren wurde ein Wahrzeichen der italienischen Industriemetropole seiner Bauherrschaft übergeben: der «Grattacielo Pirelli» am Duca d'Aosta-Platz, beim Mailänder Hauptbahnhof «Centrale». Das markante Gebäude — ein Musterstück des «razionalismo italiano» (aka «Bauhaus») und der grosse Bruder des Basler Lonza-Turms, des New Yorker Pan Am/MetLife Building sowie des Alpha Tower in Birmingham/UK — gehört zwar seit 1978 der Lombardei und beherbergt ihren Regionalrat, gleichwohl wird der achteckige Wolkenkratzer von den Einheimischen immer noch liebevoll «il Pirellone» genannt.
Pirelli Spa, Milano 1968, 5er-Zertifikat der Obligation zu 5% LIT 1'000;
im Unterdruck das von 1956–61 erbaute Hauptquartier (DdC)
Der wirtschaftliche Gigant entstand 1872, als Giovanni Battista Pirelli seine Gummiwarenfabrik gründete; sie stellte u.a. Absätze, Fahrradreifen, Radiergummis, Regenmäntel, elektrische Leitungen, telegraphische Unterseekabel und (seit 1901 auch) Autoreifen her. Der Konzern war stets ein Key Player in Gummiprodukten — man kennt den Namenszug auch in der Formel 1 —, doch die Aura leuchtet wegen des Kult-Kalenders: «The Cal».
GQ, Januar 2001, Titelblatt mit Gisele Bündchen,
photographiert von Mario Testino für «The Cal» 2001
1964 erstmals erschienen, von 1975 bis 1983 unterbrochen und dann wieder jährlich publiziert, ist dieses elitär für Stammkunden und sog. «Freunde» herausgegebene Bilderwerk ein Renner: Kaum ist das Ding draussen, wird es in Zeitungen und Zeitschriften gezeigt, von Aficionados gejagt und für Normalsterbliche bei eBay und anderen online-Auktionen feilgeboten — der Kalender ist das Nonplusultra der Aktmeister & Supermodels und wurde bereits drei Mal als Anthologie freigegeben.
Pirelli Spa, Milano 1947, Aktie LIT 500 |
Vorzugsaktien |
Optionen |
Holding N.V. |
Pirelli España |
Veith |
Veith-Pirelli |
Metzeler |
Pirelli DE |
Société Internationale Pirelli S.A. Bâle, Basel 1962,
Aktie CHF 100, Specimen (photo: courtesy of Matthias Schmitt/hwph.de) |
Doch nicht Pirellones runder Geburtstag war Anlass dieses Artikels, zudem schaue ich kaum Formula Uno, und Gisele B. ist sicher OK, aber weder Obsession noch Ambition (sie ist sowieso vergeben). Ganz einfach: Ich entdeckte bei eBay ein interessantes, gut erzähltes und grosszügig bebildertes Buch, das auch beim Verlag für schlappe € 30 zu kaufen ist.
«Helmut Newton & Pirelli — storia di un calendario censurato»,
erschienen im Oktober 2006 bei AutoCircuito Srl
Der Wirtschaftsjournalist und Autor Giuseppe Meroni hat sich auf die Suche gemacht nach dem verschollenen Pirelli-Kalender mit Bildern von Helmut Newton. Zwar erschien fürs 1986 die Ausgabe mit Photos von Bert Stern, aber das Gerücht war nicht wegzubringen: Eigentlich sollte erstmals ein rein italienischer Kalender verlegt werden, und der Maestro aus Monte Carlo habe dazu die Bilder geliefert … In bester Reportermanier trug Meroni akribisch Dokumente, persönliche Erinnerungen (sowie das verräterische «no comment») vieler Zeitzeugen und vor allem eine Fülle von Bildern zusammen, um schliesslich eine spannende Geschichte zu schreiben.
die Maquette des Januar-Kalenderblattes
Das Projekt war zuoberst abgesegnet worden, bis kurz vor Druck des Kalenders zügig vorangekommen, und Helmut Newton lieferte wie gewohnt beste Qualität. Weshalb erschien das erste «made in Italy»-Pendant zum britischen «Cal» dann doch nicht? Wollte man das seit Jahren erfolgreiche firmeninterne Produkt nicht konkurrenzieren (auch weil Dunlop mit am Tisch sass)? Oder war es Filiberto Pittini, dem damaligen Pirelli-Vorsitzenden tatsächlich ernst mit der Aussage: «Questo è un calendario di puttane. La Pirelli queste cose non le pubblica» («Dies ist ein Hurenkalender. Pirelli verlegt solche Sachen nicht.») — diese Firma hatte nie Berührungsängste mit derartiger Werbung (nicht mal in den USA) und btw: Wie definiert Mann eine «Hure»?! Tatsache ist: Pirellino zog den Auftrag still und leise zurück, erwarb korrekt für rund 350 Millionen Lire alle Negative, Entwürfe und Belege, quartierte sie in eine Lagerhalle ein und dachte wohl, die Angelegenheit sei damit ein für allemal begraben. Doch Dank Meroni kam die Geschichte samt ihrer Hintergründe zwanzig Jahre später ans Licht.
der «Consorzio Vino Chianti Classico» verwendete 1986
ein für den italienischen Pirelli-Kalender vorgesehenes Bild
Der Autor hat das Puzzle gut gelegt, und es ist schade für die Kunst (und Schande des letztlich Verantwortlichen), gewannen persönliche und kurzsichtige Egoismen die Oberhand. Das Buch liefert ausführlich die Erkenntnisse (u.a. ein weiteres Bild, das in einem anderen Kalender erschien) — und es zeigt herrliche Aufnahmen der regione Chianti, damalige Schnappschüsse aus dem Off und gelungene Portraits; Helmut Newton kann sehr zärtlich sein. Meroni gelang, die toskanischen Farben, das Klima im Pirelli-Hauptquartier und Helmut Newtons künstlerische und menschliche Natur gekonnt darzustellen; ein herausragendes Buch zur Geschichte der Aktphotographie.
die Chianti-Bilder schoss Newton mit seiner Hasselblad;
Hasselblads Fotografiska AB, Göteborg 1909, Aktie über SKR 1'000 (details)
Vom 19. Juni bis zum 4. September 1994 lief in der Galerie der Stadt Esslingen, der Städtischen Galerie Göppingen und im Märklin Museum Göppingen eine Ausstellung über «Die Eisenbahn in der zeitgenössischen Kunst». Viele werten Helmut Newtons Arbeit simpel als Pornographie, mit entsprechend gerümpfter Nase — den Meister selbst störte dieser Begriff ganz und gar nicht, er benutzte ihn oft (und liebte durch die Linse das Gegenüber) —, doch wenn sogar die gutbürgerliche Märklin eine Sonderserie im Masstab 1:87 (Spur H0) mit einer Newtonschen Nackten auf den Markt bringt, darf man meinen, der «King of Kink» sei salonfähig geworden.
der Containerwagen von Märklin mit der Produktionsnummer 31976 erschien
1994 zur Ausstellung «Die Eisenbahn in der zeitgenössischen Kunst» (pic 2)
Der Schein trügt: Seine Kunst wird immer noch verkannt, entweder (bei uns) grob auf die Wixerhalde gekarrt oder (in den Staaten) moralintello als inkorrekt/sexistisch abgetan; Morgen im Osten sieht es hoffentlich anders aus. Er wagte die Aussage: «The term ′political correctness′ has always appalled me, reminding me of Orwell's Thought Police, and fascist regimes»¹ — yep.
… wie mir scheint, ebenfalls ein «italienisches Werk» Helmut Newtons
— ein hübscher Fund, aber ich weiss noch wenig darüber …
Zum Schluss zwar nichts für Scripophilisten, aber ein Kuriosum der Philatelie: Irgendein Schlaumeier gab 2002 einen Benin-Block heraus mit neun verschiedenen Werken von Helmut Newton. Der Druck ist nach Aussagen der Wertzeichenstelle Benins und der UPU nicht offiziell, sondern eines der vielen Machwerke für den unersättlichen Sammlermarkt: Drittweltstaaten werden von «Agenturen» gerne missbraucht (bzw. ihre Apparatschiks ge-Bakshisht), um allerlei fantasievolle Münzen und Wertzeichen herauszugeben — doch es gibt sogar amtlich gestempelte Newton-Belege. Anyway — Tatsache ist: Die Blätter sind beliebt, im Handel fast nicht aufzutreiben, und sie kosten in Kunstgalerien €100 und mehr …
République du Benin, 2002, Marke über CFA-Francs 500
(sheetlet, imperforated)
Helmut Newton und seinen Kompositionen erotischer Geschichten, seinen intimen Portraits und den nunmehr klassischen Modephotographien begegnet man in der Werbung, in seinen Büchern, den vier «Illustrirten» und auf DVDs sowie Dank der «Helmut Newton Stiftung».
PS (11/09/08): Möglicherweise ist dies
das siebente Pirelli-Bild von Helmut Newton
PS/Oct11: Datiert 2003 erschien ein Congo-Block mit neun Helmut Newton-Motiven, ebenfalls gezähnt und ungezähnt herausgegeben. Anscheinend sind diese Briefmarken amtlich, denn mir ist hier keine besondere Verlautbarung der UPU bekannt. Das Ausgabejahr ist jedoch fragwürdig, denn die Umrandung zeigt oben sein Geburts- und sein Todesjahr.
Debra Winger, Los Angeles 1983;
République Démocratique du Congo, 2003, Marke zu Congo-Francs 125
(sheetlet «Tribute to Helmut Newton», imperforated)
PPS/Dec13: Was lange währt … ;-) Ende November 2013 berichtete u.a. die britische Vogue, die Ausgabe 2014 zum 50. Jubelfest des «Cal» werde Helmut Newtons Bilder aus den Achtzigern zeigen — wow, very mutig! Dem heutigen Pirelli-Präsidenten Marco Tronchetti Provera sei Dank! Der Kurzfilm (und die Übersicht):
Quellen:
¹ American Photo, January/February 2000, p. 90
• In der New York Times erschien am 21. September 2003 ein wunderbarer Artikel von Sarah Mower: «The 'King of Kink' Made Naughty Fashionable»
• die Geschichte von Hasselblad
• im Text genannte und eigene Unterlagen